Der Para-Chef ist verhaftet, aber die Paras sind präsenter denn je

Einmal mehr sieht sich unsere Friedensgemeinde San José de Apartadó in der ethischen und moralischen Pflicht, über die jüngsten Ereignisse zu berichten. Generell haben wir feststellen müssen, dass unsere Existenz immer mehr von Institutionen, die auf regionaler Ebene agieren, in Frage gestellt wird. Und es hat sich erwiesen, dass deren Vorgehen gegen uns von den nationalen Führungen dieser Institutionen nicht nur unterstützt, sondern geradezu angeordnet und geplant  wird.

Die Rekrutierung und gewaltsame Unterwerfung durch die Paramilitärs ist etwas, von dem unsere Gegend nicht verschont bleibt. Die Folge ist ständiges Leid, dem die Bevölkerung ausgesetzt ist, und zwar im Interesse vieler Mächtiger, die sich illegaler Akteure wie der Paras bedienen, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Regierung in Bogotá hat in den letzten Monaten nur versucht, ihr mangelndes Engagement für die breite Bevölkerung zu kaschieren – daher die Farce um die Festnahme des obersten paramilitärischen Anführers Dairo Úsuga alias „Otoniel“, die die Regierung als Beweis dafür ausgab, dass der Paramilitarismus am Ende ist.  Die Realität sieht jedoch anders aus, denn das flache Land lebt immer noch unter Terror, und es ist klar, dass die Verhaftung von „Otoniel“ diese Verhältnisse nicht verändert hat. Im Gegenteil, der Paramilitarismus hat seine Macht überall noch verstärkt.

Die Ortschaften von San José sind für die Paras ein Korridor, in dem sie in aller Ruhe und unter dem Schutz aller staatlichen Institutionen und Kräfte operieren konnten. Und die staatlichen Institutionen beschränken sich darauf, die Übergriffe der Paras einfach zu registrieren.

In letzter Zeit haben die Paramilitärs mehrere Jugendliche in der Gegend rekrutiert und sie in andere Dörfer des Bezirks gebracht. In vielen Fällen werden die Zwangsrekrutierten in andere Gebiete des Landes gebracht, wo bereits mehrere von ihnen getötet wurden, auch von den Sicherheitskräften. Diese jungen Menschen werden buchstäblich als Kanonenfutter für kriminelle Strategien missbraucht.

Heute wollen wir über die folgenden Fakten Bericht erstatten:

Am Freitag, den 29. Oktober 2021, wurde ein schwer bewaffnetes paramilitärisches Aufgebot in der Ortschaft Playa Larga gesichtet.

Am Samstag, den 30. Oktober 2021, wurden wir darüber informiert, dass zwei junge Männer aus dem Dorf La Unión von den Paramilitärs zwangsrekrutiert und offenbar in das Dorf Playa Larga in San José de Apartadó gebracht wurden, wo sie später gesehen wurden.

Am Sonntag, dem 31. Oktober 2021, wurde im Laufe des Tages bekannt, dass die Paramilitärs in der Region angeblich eine neue regionale Ordnung durchsetzen. Der Ankündigung zufolge enthält sie Drohungen gegen unsere Friedensgemeinde.

Zwischen dem 5. und 10. November 2021 erfuhren wir nach Informationen, die unsere Gemeinschaft erreichten, von einer Reihe von Erpressungen auf der Straße, die vom Stadtgebiet von Apartadó zum Dorf San José führt. Dort fordern bewaffnete Personen, offenbar Paramilitärs, von den Transporteuren von Lebensmitteln, Holz und anderen Produkten, die in Lastwagen transportiert werden, Beträge von mehr als 100.000 Pesos (Anm. d. Ü.: knapp 23 Euro).

Am Samstag, den 13. November 2021, wurden Drohungen gegen unsere Friedensgemeinde von  „Chiquito Malo“, dem angeblichen Chef der Paramilitärs in Urabá, ausgesprochen, der „Otoniel“ ersetzt. Berichten zufolge plant er Aktionen gegen unsere Friedensgemeinde.

Am Sonntag, den 14. November 2021, wurde uns mitgeteilt, dass das Kontingent der Armee, das seit mehr als einem Monat in der Ortschaft La Unión stationiert ist und angeblich mit einer humanitären Minenräumgruppe zusammenarbeitet, nicht einmal den Ort verlässt, an dem es stationiert ist – was beweist, dass es nicht zum Minenräumen da ist. Die ganze Zeit über sind die Soldaten auf dem Privatgrundstück der Bauern geblieben, ohne um Erlaubnis zu fragen. Die Menschen fragen sich: Wo sind die Ergebnisse der Minenräumung? Die gibt es offenbar nicht. Die Menschen in diesem Gebiet haben eher verstanden, dass die Strategie der 17. Heeresbrigade darin besteht, das Land zu besetzen. Ihre Angehörigen haben Privateigentum verletzt und Häuser gebaut, um unter der Zivilbevölkerung zu leben. Jetzt weiß die Bevölkerung nicht, wie sie sie dazu bringen soll, zu gehen, denn sie versteht, dass die „Minenräumung“ ein Schwindel war. Minenräumung sollte grundsätzlich von neutralen Experten durchgeführt werden und nicht von Kriegsakteuren, die ihre Interessen im Krieg hatten. Vielleicht hat die Unwissenheit mancher Menschen in den Dörfern die Militärs dorthin gebracht, wo sie für nichts nütze sind. Denn die Paramilitärs verbringen ihre Zeit dort ungestört mit Alkoholkonsum und in engem Zusammenleben mit den Militärs.

Am Freitag, dem 19. November 2021, fand  eine Sitzung der Junta de Acción Comunal (Anm. d. Ü.: Die Juntas de Acción Comunal, wörtlich Gemeinde-Aktionsausschüsse, sind von der Verfassung vorgesehene Mitbestimmungsgremien auf kommunaler Ebene, die in der Praxis jedoch oft von den örtlichen Machthabern  manipuliert sind) des Dorfes Mulatos Medio auf dem Schulgelände der Gemeinde statt. Den Informationen zufolge wurde dieses Treffen von einem paramilitärischen Politiker einberufen, der dort in Begleitung anderer Männer mit Funkgeräten eintraf. Offenbar war eines der zu besprechenden Themen unser Friedensdorf Aldea de Paz Luis Eduardo Guerra, ein Raum, in den die Paramilitärs seit mehreren Jahren eindringen wollten. Trotz zahlreicher Drohungen hat  unsere Friedensgemeinde jedoch immer die Legitimität unserer Siedlung an diesem Ort verteidigt, der mit dem Blut unseres Anführers Luis Eduardo Guerra und anderer Compañeros und Compañeras getränkt ist, die dort den Paras zum Opfer fielen.

Am Dienstag, den 30. November 2021, in den Morgenstunden, drangen zwei Personen auf den zu unserer Friedensgemeinde gehörenden Bauernhof La Roncona ein und behaupteten, Vermessungsingenieure der Firma Tovar zu sein. Während sie sich ohne Genehmigung auf unserem Grund und Boden aufhielten, erklärten sie, dass sie den Auftrag hätten, zwei Hektar des zu dem Gehöft gehörenden Landes zu vermessen.  Zu diesem Zeitpunkt wurden Mitglieder unserer Friedensgemeinde, die auf der Farm arbeiteten, auf die Landvermesser aufmerksam. Wir sagten den beiden, dass ein Prozess zur Eigentumsübertragung des Grundstücks im Gange sei, woraufhin sie antworteten, dass sie davon nichts wüssten und lediglich mit den Vermessungsarbeiten beauftragt worden seien. Diese beiden Personen wandten sich an ihren Vorgesetzten, der ihnen befahl, das Grundstück zu verlassen, aber nicht ohne ihnen mitzuteilen, dass sein Chef Herrn Martín Jaramillo kontaktieren wird – unseren Gegner in der Auseinandersetzung um das Land.

Zu diesen Vorfällen kommt noch die neue Kontrollregel hinzu, die die Paramilitärs jetzt umsetzen wollen: Sie verpflichten jede Person, sich bei den Juntas de Acción Comunal einzutragen, und sie drohen, dass sie bei Zuwiderhandlung Maßnahmen ergreifen werden. Sie haben auch bestimmt, dass jeder, der in das Gebiet kommen will, mit der entsprechenden Genehmigung oder in Begleitung von Bekannten kommen muss.

Als Friedensgemeinschaft werden wir all diese paramilitärischen Aktionen in unserer Region stets ablehnen und öffentlich machen. Wir wissen, dass das Gefahren mit sich bringt. Aber zu schweigen wäre noch schlimmer, vor allem in Anbetracht des erschreckenden Blutvergießens, das dies unter der Zivilbevölkerung in der Region verursacht.

Wir können nur all den Stimmen der Ermutigung danken, die wir täglich aus dem Land und der Welt als Gesten der Solidarität und der moralischen Stärke erhalten, auf die wir in all dieser Zeit gezählt haben.

Friedensgemeinde von San José de Apartadó, im Dezember 2021

Filmabend: „Chocolate de Paz“ am 28. März

© Chocolate de Paz

© Chocolate de Paz

In Kooperation mit „Peace Brigades International“ laden wir herzlich ein zum Film mit anschließendem Gespräch am 28. März:

CHOCOLATE DE PAZ

Die Friedensgemeinde San José de Apartadó in Kolumbien weigert sich seit ihrer Gründung 1997, Partei für eine der im bewaffneten Konflikt beteiligten Gruppen zu ergreifen – Paramilitärs, Guerillagruppen oder die Armee – und kämpft mit gewaltfreien Mitteln für ein Leben in Frieden. Mehr als 250 Mitglieder der Friedensgemeinde und Zivilisten, die in der Gegend wohnten, sind seitdem getötet worden oder gewaltsam verschwunden. Die Gemeinde erhielt im September 2007 den Aachener Friedenspreis. Weiterlesen

Filmabend: Chocolate de Paz

© Chocolate de Paz

© Chocolate de Paz

Während der Internationalen Wochen gegen Rassismus zeigen wir in Kooperation mit dem Murnau-Filmtheater und Peace Brigades International am 26.03.2017 um 20.15 Uhr:    

Chocolate de Paz

Wir freuen uns sehr an diesem Abend die Produzentin und Regisseurin Gwen Burnyeat zum Filmgespräch begrüßen zu können.

Die Friedensgemeinde San José de Apartadó in Kolumbien weigert sich seit ihrer Gründung 1997 Partei für eine der im bewaffneten Konflikt beteiligten Gruppen zu ergreifen – Paramilitärs, Guerillagruppen oder die Armee – und kämpft mit gewaltfreien Mitteln für ein Leben in Frieden. Mehr als 250 Mitglieder der Friedensgemeinde und Zivilisten, die in der Gegend wohnten, sind seitdem getötet worden oder gewaltsam verschwunden.

Chocolate de Paz beschreibt die Erfahrungen der Friedensgemeinde, die sich nicht am Konflikt beteiligen will. Er durchläuft dafür den Prozess von Anbau und Produktion von Bio-Schokolade mit Beginn der Aussaat der Kakaopflanze bis zur Verarbeitung. Kakao ist der Erzählfaden, der uns Geschichten von Gewalt und Widerstandskraft in einer Gemeinde näher bringt, die versucht, neutral gegenüber allen Gewaltakteuren des Konfliktes zu bleiben. Der Film bietet einen Ausblick der Hoffnung und belegt, dass es mit großen Schwierigkeiten möglich ist, über menschliche Beziehungen und lokalen Handel Frieden von unten aufzubauen.

Zur Einführung zeigen wir eine 13 minütige englischsprachige Dokumentation des Regisseurs und Produzenten Ede Müller von Zabrisky Film über die Friedensgemeinde aus dem Jahre 2009. Der Film skizziert die komplexen Strukturen des kolumbianischen Konfliktes und zeigt auf, wie die Friedensgemeinde durch konsequente Neutralität und Gewaltfreiheit versucht, dem Konflikt zu widerstehen und diesen aufzubrechen.

Doku, GB/CO 2016, 55 Min., OMU, Regie: Gwen Burnyeat, Pablo Mejía Trujillo

Sonntag 26.03.17, 20.15 Uhr
Eintritt: 6 € / 5 €
Murnau-Filmtheater, Murnaustraße 6, 65189 Wiesbaden

Zum Programm der Internationalen Wochen gegen den Rassismus in Wiesbaden.


   

LESUNG: „MARIELAS TRAUM“ MIT ALEXANDRA HUCK

Peace Brigades International und Amnesty International laden Sie herzlich ein:

© Alexandra Huck

© Alexandra Huck

„Marielas Traum“ Lesung mit Alexandra Huck

„Eher fließt das Wasser flussaufwärts, als dass ein Vertriebener in Kolumbien sein Land zurückbekommt – oder dass ein General für seine Verbrechen ins Gefängnis geht“, sagt der alte Eugenio, Marielas Vater.

„Marielas Traum“, der erste literarische Text der Autorin Alexandra Huck, ist ein spannender Roman, ein Politthriller aus Kolumbien, eine fiktive Geschichte – die doch genau so stattgefunden haben könnte.

© Alexandra Huck

© Alexandra Huck

Mariela wächst an den Ufern des Chitandó auf, wo ihre Eltern im kolumbianischen Dschungel ein Stück Land urbar gemacht haben. Immer weiter dringen indes Paramilitärs in die Region vor. Sie haben auch Marielas Vettern Jhon und Alexis im Visier. Brutal vertreiben die bewaffneten Männer die Menschen aus Marielas Dorf. Und Oberst Montenegro und sein Verbündeter Héctor setzen alles daran, dass die Dorfbewohner niemals an den Chitandó zurückkehren.

Der Roman erzählt nicht nur die Geschichte von Marielas persönlichem Kampf für Gerechtigkeit sondern auch davon, wie Menschen inmitten des Krieges in Kolumbien die Hoffnung aufrecht erhalten. Weltweit wird Land eine immer knapper werdende Ressource und viele Kleinbäuer_innen sind von der Gier nach ihrem Land, dem „Landgrabbing“ betroffen und in ihrer Existenz bedroht.

Die Autorin:
Alexandra Huck wurde 1969 in Baden-Württemberg geboren und hat Politikwissenschaft, Romanistik und Volkswirtschaftslehre studiert In Kolumbien war sie 1999 zum ersten Mal und ist seither vielfach dorthin gereist, u.a. zu Recherchen für Marielas Traum.  Seit mehr als zehn Jahren lebt Alexandra Huck in Berlin und hat in dieser Zeit verschiedentlich Sachtexte zu Kolumbien verfasst. Mit Marielas Traum legt sie ihren ersten Roman vor. Sie arbeitet bei der Organisation kolko – Menschenrechte für Kolumbien e.V.

Freitag, 23.09.2016, 19:00 Uhr
Infoladen Linker Projekte
Blücherstrasse 46, 65195 Wiesbaden